Geschichte und Geschichten
von Prof. Dr. Christoph-Michael Haufe

Liebe Gemeinde von Liemehna und liebe Freunde aus nah und fern, liebe Brüder im Pfarrhaus Liemehna, draußen steht angezeigt, ich solle reden über Geschichte und Geschichten. Es ist ja so, daß, wenn man selbst zehn Jahre hier erlebt hat, man allzu leicht geneigt ist, zu denken, das sei nun der Mittelpunkt der Welt und auch der Mittelpunkt des Ablaufs aller Zeit. Man hat sehr viel erlebt, man ist voll der großen Erlebnisse und ist geneigt, sich selbst ein wenig, möglicherweise gleich absolut, zu setzen als Maßstab des Erlebten.
Bekannterweise erleben sich die jüngsten zehn Jahre des eigenen Lebens in Geschichten. Aber diese Geschichten, wenn man sie mißt an dem, was das Volk Gottes vorher schon in diesen Dörfern erlebt hat, diese Geschichten fügen sich plötzlich an die Geschichte, an die Geschichte Gottes mit seinem Volk in diesen Dörfern. Und damit wir den rechten Atem kriegen, die letzten zehn Jahre einatmen zu können und das rechte Augenmaß, sie beurteilen zu können, wollen wir ein wenig aus dem Rhythmus der Geschichte dieser Dörfer davor setzen, um uns selber besser erkennen zu können.

Die Geschichte des Pfarrhauses Liemehna

Es geht uns vor allem um dieses Pfarrhaus drüben, in das die Brüder eingezogen sind, Studenten des Theologischen Seminars.
Und dieses Pfarrhaus wird greifbar für uns sehr früh, wenn auch gleich nicht zu früh.
1566 gibt es eine Eintragung in einem anderen Kirchenbuche.
Die hiesigen sind verbrannt im Dreißigjährigen Krieg. Daß es einen Pfarrhausbau gegeben habe, enthaltend eine große Stube, ein Studierstüblein und ein Badstüblein. Daß die Leute auch der Nachtruhe gepflegt haben und ihres Leibes Notdurft durch Essen und anderweitige Verrichtungen haben machen müssen, das steht in diesem Protokolle nicht. – Eine große Stube, ein Studierstüblein, ein Badstüblein.
Im großen und ganzen ist es so in diesem Haus geblieben, bis heute. Es gibt die große Stube der Brüder, die kleinen Studierstüblein der Brüder und zwei sehr große Badstuben.

1566 – was davor war, das kann man nur erahnen, da haben wir nur eine Jahreszahl an einer Stelle des Turmes – 1202 oder 1209 – man kann sie nicht mehr richtig erkennen. Es war die Zeit, als viele unseres Stammes von drüben hierher einzogen und das Christentum oder christlicher Glaube in diesen Dörfern Fuß faßte.
Als wir die große Fäkaliengrube ausschachteten hinter dem Hause, bemerkten wir zwei Meter tiefe Brandspuren. Es ist doch offensichtlich in vorchristlicher Zeit schon kultisch gelebt worden und dieser Hügel hier hatte es offenbar in sich. Die Christen haben ihn getauft, eine Kirche drauf gebaut, 1202 oder 1209, und dies dann dem dazugehörigen Gottesdienst gestiftet. Aber davon zu erzählen, das würde nichts besonderes sein, denn das machen ja Christen.
Was im Laufe dieser Jahrhunderte bis hin zu unseren Geschichten der letzten zehn Jahre passiert ist, soll sich nicht erschöpfen in den vermuteten friedlichen Zeiten, die dahingegangen sind mit dem großen Fleiß vieler Christen, sondern soll an zwei anderen Punkten einsetzen, nämlich:
Dieses durch Liemehna und seiner Mitdörfer wandernde Gottesvolk hat zweimal große Zusammenbrüche erlebt. Einmal im Dreißigjährigen Krieg und einmal in unserer allerjüngsten Zeit, an die wir dann anknüpfen. Es hätte nicht so sein müssen und der Zusammenbruch des Dreißigjährigen Krieges war ein von außen bewirkter. Der Zusammenbruch des zweiten „Dreißigjährigen Krieges”, dem von 1914 bis 1945 und danach ist ein mehr von innen bewirkter, wo man sagen kann mit dem biblischen Schreiber: Der Tod im Topf der Gemeinde.

Es hätte nicht so zu sein brauchen, denn die Gemeinde war eigentlich gut imstande. Wir sind doch vier Dörfer. Mutzschlena, Liemehna, Ochelmitz und Pönitz. Vier drollige Dörfer, denn sie gehörten niemals einem Herrn. Einem Herrn Christus wohl, aber vier weltlichen Herrn. Ochelmitz gehörte dem Fürsten in Wittenberg, Liemehna dem Herzog in Dresden, Mutzschlena war nicht ganz klar, Pönitz gehörte einem kleinen Grafen. Das hatte zur Folge, daß die Ochelmitzer das Evangelium eher annehmen konnten, als die Liemehnaer. Hier saß ein alter Pfarrer, der hielt eisern am ka­tholischen Glauben fest. Da haben es die Ochelmitzer fertiggebracht im Jahre 1535, sich loszureißen aus ihrer Pfarrei. Und das heißt ja viel damals in dieser bewegungsarmen Zeit. Man hatte hier seine Toten, man hatte hier seine lebenden Freunde, man riß sich aus dem Kirchspiel los und pfarrte sich drüben in Behlitz ein, weil dort schon ein evangelischer Pfarrer saß und hier noch keiner. Erst als der hiesige das Zeitliche gesegnet hatte und auch der Herzog in Dresden gestorben war, vereinigte sich die Gemeinde wieder. So tapfer waren die Ochelmitzer damals gewesen. Es blieb nur nicht viel von ihnen übrig.
Im Jahre 1618, im Kriegsausbruchsjahr des Dreißigjährigen Krieges, haben wir von unserem geliebten Pfarrhaus Liemehna eine Visitationsnotiz im sächsischen Landeshauptarchiv, von unserem Kollegen und euerem Lehrer Dr. Blaschke ausgezogen archivalisch, da steht zu lesen:
„Ein Wohnhaus anno 1566 erbaut. Jetzt übel befirstet und darin auf dem Unterboden niemand in keiner Kammer wegen der wurmstichigen Bretter sicher gehen kann. Wohn-, Studier- und Badstube ist noch gut. Kuhstall, Scheune, Schuppen, Pferdestall; Schaf- und Gänsestall sind noch gut. Die Schweineställe alle sind böse, man kann kein Schwein darin behalten. Ein Brunnen im Hofe mit Röhren – ist oft daran zu bessern.“
Auch das wissen die Liemehnaer und vom Kirchspiel vom Brunnen: am Pfarrhaus ist oft daran zu bessern gewesen. Davon wird noch zu berichten sein.
Das war 1618, aber von dieser schon relativen Herrlichkeit blieb nicht viel übrig.

Im Jahre 1625 ging eine verheerende schwarze Seuche durchs Land – die Pocken. War bis zum Beginn dieses Dreißigjährigen Krieges die Bevölkerung noch großartig gewachsen, man schrieb zwanzig Geburten auf acht Todesfälle in einem Jahr, so war im Jahre 1625 das Verhältnis ganz anders. Auf eine Neugeburt kamen zwanzig Tote. Dem Pfarrer starben Frau und fünf Kinder, eine Tochter blieb übrig – er war ein gebrochener Mann, der dann nur noch wenige Jahre gelebt hat.
Und die Jahre wurden immer schlechter. Kaiserliche und Schweden stritten sich um die Macht in unserem Lande. Und das war so, daß die Dörfer schließlich vollkommen entvölkert waren.

Das Pfarrhaus als Räubernest – die erste große Katastrophe

Dort, wo jetzt die Kreuzung ist in Liemehna, war schon immer eine Kreuzung und es fuhr dadurch eine große Heerstraße von Eilenburg nach Leipzig, die besonders von Bierwagen benutzt wurde; und immer wieder erscheint in der Chronik das Wort „Bierwagen”. Und die marodierenden Soldaten benutzen diese Kirche und das Pfarrhaus als Räubernest, um von dort aus blitzartige Überfälle auf die Bierwagentransporte, die von Eilenburg nach Leipzig gingen, zu unternehmen. So auch im Jahre 1639, am 21. März.
Es lebten in Liemehna damals nur noch sechs Menschen. Der Pfarrer und die ganze Gemeinde hatten sich nach Eilenburg auf dem Berge hinter die festen Mauern geflüchtet, Ochelmitz war völlig wüst und leer, Mutzschlena völlig wüst und leer, von Pönitz weiß man’s nicht. Das war immer schon ein bißchen apart, wahrscheinlich besser dran, da näher an Leipzig und dadurch des militärischen Schutzes immer etwas sicherer, als diese einsamen Dörfer.
Und da hieß es, daß die Schweden hier oben gesessen hätten und wieder einen kaiserlichen Bierwagentransport ausgehoben hätten und die Sache so schnell bewerkstelligt hätten, daß Sie das offene Feuer im Pfarrhaus nicht löschten. Sind einfach davon gegangen.
Mancher von uns hat solche Gefühle, wenn er von Zuhause weg ist und sagt: Hast du das Gas abgedreht? Die Schweden hatten solche Gefühle nicht, die ließen brennen, was brannte. Das Pfarrhaus verbrannte, die Flammen griffen auf die Kirche über und es ging alles in Schutt und Asche, wie zu lesen steht; sogar die Kirche mit dem Turm, allem Zierrat, den Glocken und dem Schlagwerk der Uhr.
Andere wiederum sagten, das seien nicht die Schweden gewesen, sondern die Kaiserlichen, weil sie hier ein Schwedenräubernest wußten, hätten das Räubernest ausgeräuchert. Und die Kaiserlichen hätten Kirche und Pfarrhaus verbrannt. Es war niemand mehr da, von der Kirche und von der Gemeinde, der es hätte sagen können, wer es denn nun war.
So ist das im Kriege. Schließlich weiß man gar nicht mehr, wer es war, aber hin war schon damals hin. Zwanzig Jahre hat hier Gemeinde wüst gelegen. Zwanzig Jahre, bis vom sächsischen Fürsten August dann die Sache wieder aufgebaut worden ist. Im jetzigen Zustand diese Kirche und drüben das Pfarrhaus. Das war die erste große Katastrophe dieses Kirchspiels.

Die zweite große Katastrophe

Die Zweite war im zweiten Dreißigjährigen Krieg von 1914 bis 1945 und jetzt wird es so, daß es uns auf den Leib rückt. Mancher von uns ragt in diese Zeit ja noch zurück.
Es hat in diesen Jahren zwischen den Kriegen in den scheinbar friedlichen Jahren bereits Sonntage gegeben, wo Pfarrer und Kantor alleine in der Kirchentür standen und niemand zu dieser Stätte der Verehrung Gottes kam. Und das war nicht durch äußere Einflüsse, weil man gestorben oder vertrieben worden wäre, man saß hier und man ging nicht mehr zum Gottesdienst. Auch ließen manche sich betören von den falschen Hoffnungen eines Rattenfängers, der in unserem Volke so großes Unheil angerichtet hat und wandten sich von der Kirche ab. Alles stand noch tipp topp in Schuß, aber innen fing der Geist an, auszuwandern.
Vor 1945 war es, ich kenne die Eintragungen aus den Kirchenbüchern, als der Pfarrer mit einer mit einer kalten, klaren Nüchternheit einzutragen hatte: „Im Gottesdienst niemand.” Dann in Klammern: „Pfarrer, Kantor”.

Dann kam das Jahr fünfundvierzig, wo wir durcheinandergewirbelt wurden, wir wußten gar nicht, wie, mit vielen Flüchtlingen. Das gab eine gewisse Erschütterung der Herzen und diese Kirche hat man in den Jahren nach fünfundvierzig voll gesehen. Und dann verebbten die Wellen dieser Erschütterung. Man konnte, wenn man sich rührte, wieder, wenn auch zu einem bescheidenen, so doch zu einem bürgerlichen Leben zurückfinden.
Und wir rührten uns, wir rührten uns sehr. Wir wanderten wieder aus der Kirche aus. Und es gab nach 1945 zwar keinen Sonntag wieder, wo niemand dagewesen wäre, aber wir Christen sind so wenige geworden, daß diese Dörfer keinen Pfarrer mehr nähren können, sondern daß dieses Kirchspiel nun als Schwesterkirchspiel zum Weltewitzer geschlagen worden ist. Viele Jahre hindurch hatte es daher hier nur noch vierzehntägig Gottesdienst geben können.
Wo der Hirte nicht mehr erscheint, beginnt die Herde, sich zu verlaufen. Man hatte einen Katecheten hineingesetzt ins Pfarrhaus, der die Kinder sammeln sollte, auch der wurde alt und zog davon und nichts sammelte sich mehr. Fremde kamen in die Kirche, weil die Ortsbehörden natürlich darauf achteten, daß Wohnraum nicht brach lag. Und so ging es Jahr um Jahr und der Unterricht begann hier zu versanden, trotz aufopferungsvoller Dienste von weit her. Und der Pfarrer, der dann kam, konnte sich ja nicht vierteilen in allen seinen vielen Dörfern und Predigtstätten, die er zu bedienen hatte.
Und wir hörten heute früh aus dem Munde von Herrn Pfarrer Seidenberg, wie in einer Pferdekutschenstunde in Weltewitz der Plan gefaßt worden sei, man solle doch dem Verfall des Hauses wehren, denn der ging rasend vor sich.
Da nur noch alle vierzehn Tage Gottesdienst war, oben links, von nur wenigen Menschen belaufen, wuchs vor der Haustür die Melde mannshoch, der Beifuß noch höher und der Holunder hinterdrein. Man mußte sich durch die Wildnis zwängen, wenn man ins Pfarrhaus Liemehna wollte.
Das Regenwasser lief nicht mehr ab, sondern in den Lehm, in den Lehm von 1566 im Erdgeschoß und dem Fachwerk und dem etwas spärlichen Mauerfüllwerk der armen Jahre nach dem Dreißigjährigen Krieg und brachte die nördliche Giebelwand aus dem Lot, man konnte von außen durch einen breiten Riß hineinsehen.
Die Leute, die drin wohnten, erlebten eine Sturmnacht, die sie in dem Hause nicht überstanden, sie stürzten im Hemde zum Bürgermeister und sagten: „Gib uns eine andere Wohnung, hier bleiben wir nicht.” Und da drohte dem Hause die baupolizeiliche Sperre.
So war der Zustand, als dem Pfarrer Seidenberg in Weltewitz und mir in Pönitz und dem Superintendenten Herrn Danzmann in Eilenburg das Pfarrhaus und die Kirche immer schwerer auf die Seele fielen.
Es war eine konzertierte Aktion des Heiligen Geistes gegen unsere Herzen, denn ich habe Zuhause eine Bank, und wenn ich auf dieser sitze, dann schaue ich über Land und sehe Liemehna, kann sehen das erhöhte Pfarrhaus an der Kirche, und immer wenn ich es sah und es leer war, wußte ich: dort tickt die Zeitbombe. – Wann wird es einfallen? Schrecklicher Gedanke.
Und dem Superintendenten ging es genauso. Und nun sind wir an dem Punkt, wo die Geschichte aufhört und die Geschichten anfangen.

Geschichten vom Beginn einer Bruderschaft in Liemehna

Wie fangen nun Geschichten an? Absichtslos. Denn nachdem eine Weile Herr Pfarrer Seidenberg in seiner Pferdekutsche gesessen hatte und ich auf meiner Bank, und der Superintendent, Herr Danzmann, in Eilenburg keine Ruhe fand, wovon das Herz voll ist, fließt der Mund über, nicht wahr, da saß ich in der Mensa unseres Theologischen Seminars eines Tages 1973 in einer Mittagsstunde im Juni. Und um mich herum saßen einige Brüder von der erweckten Fraktion.
Deren Namen werde ich in dieser kleinen Besinnung und Zurückerinnerung nicht nennen. Das haben wir vorhin in der Predigt gehört, daß wir uns da lieber nicht zur Schau auf die Straße stellen wollen, sondern es Gott überlassen, uns zu zeigen, was er für Wunder an uns tut. Auch wenn er sie durch uns getan hat, so war es doch ER.
Ich seufzte und sagte: Das ist so und so und erzählte, wie mir das ginge auf meiner Bank.
Die Ferien kamen und inzwischen ist offenbar die Pferdekutschenkonferenz gewesen und es erschien jemand in kurzen Hosen, barfuß, der mir sagte, er wolle mit drei Kommilitonen in dieses Haus einziehen, um darin zu wohnen.
Im Grunde meines Herzens hatte ich schon sowas irgendwie gedacht. Ob sich denn nicht jemand locken ließe, in diese Hütte einzuziehen, die dem Untergange preisgegeben zu sein schien? Sie sah so miserabel aus, daß der kirchliche Baupfleger, als wir denn drin saßen und er von uns den Auftrag bekam: „Mach’uns mal ein Projekt, was daraus am besten zu machen ist”, sagte, „Ihr seid ja vollkommen verrückt, da habe ich viel bessere Häuser in der Umgebung von Leipzig im Süden und Norden, wo genauso gut jemand rein kann”, aber er hatte vergessen, daß durch Führung des Geistes offenbar Liebhaber von Liemehna entzündet worden waren, in dieser Hütte Platz zu nehmen.
Und als wir den ersten Besuch erwarteten, konnte man ohne Sense gar nicht vorwärts kommen. Der Boden war vertrocknet, die Friedhofsbesucher vom Ort klagten schon lange über Wassermangel. Einer von denen, die in das Haus einrückten, hob den Schwengel, und das klare Wasser floß und fließt seitdem. Das war die erste Überraschung.
Und nachdem wir auf diese Weise nun den Beifuß, die Melde und den Holunder gesenst und ausgerissen hatten, öffneten wir die Tür und hatten zunächst nur die Klinke in der Hand. Aber die Tür gab nach. Unseren zu stürmischen Eintritt hielt das Haus beinah nicht aus. Und auch als die ersten Schwestern kamen, der Brüder, um mal die blinden Scheiben wieder durchsichtig zu machen, hatten sie nicht viel zu tun, wie gestern abend erzählt wurde, das ganze Fenster zermürbte sich von allein.
Es gab nur ein Wort, als man das Haus sah und davor stand: Bethlehem –der Stall des Herrn – nichts weiter. Und trotzdem reizte offenbar gerade dieser Zustand vier Brüder einzuziehen.

Und folgendes war:
Heute früh war die Rede von einer Weissagung, einer Prophezeiung, die im Spiele war: Tageslesung des Tages, an dem die vier sich klar wurden, daß sie hier gefordert waren, Tageslese dieses Tages war: ein Text aus dem 2. Buch der Könige, den ich jetzt vorlese – feierlichkeitshalber – um den Anfang laut werden zu lassen. Das stand zu lesen an dem Tag, und hier in dieser Kirche waren wir, und standen beisammen und wurden uns des inne:
„Und im achtzehnten Jahr des Königs Josia sandte der König den Schreiber Schafan, den Sohn Azaljas, des Sohnes Meschullams, in das Haus des HERRN und sprach: Geh hinauf zu dem Hohenpriester Hilkija, daß er abgebe alles Geld, was zum Hause des HERRN gebracht ist, das die Hüter an der Schwelle gesammelt haben vom Volk, damit man es gebe den Werkmeistern, die bestellt sind im Hause des HERRN, und sie es geben den Arbeitern am Hause des HERRN, damit sie ausbessern, was baufällig ist am Hause, nämlich den Zimmerleuten und Bauleuten und Maurern und denen, die Holz und gehauene Steine kaufen sollen, um das Haus auszubessern; doch daß sie keine Rechnung zu legen brauchten von dem Geld, das ihnen gegeben wird, sondern daß sie auf Treu und Glauben handeln. (2. Kön. 20,4ff)”
Das war eine Einladung, hierzubleiben und daß man hier bessere, was baufällig ist am Haus. Und so ist dieses Werk auf dem Boden des Risikos und des Vertrauens auf eine solche Zusage in Angriff genommen worden.
Es fehlt nie an Geld, merkwürdigerweise. Es wurde den Leuten, die da kauften und einkauften und bauten, unter die Hand gegeben. Es wurde abgerechnet, aber es wurde nicht so abgerechnet, daß man hätte rechnen müssen, sondern das waren Bilanzen, die einem nur sagten, was nötig war. Das Geld kam von den verschiedensten Seiten, wir haben Erlebnisse gehabt, einmal von der Mutter, Theologisches Seminar natürlich, große, fette Batzen, und dann auch noch die Erlebnisse aus der Gemeinde und aus den Spendenkreisen.
Denn nachdem man einmal drin war in dem Haus, regte sich plötzlich vieles.

Das erste, was sich regte, waren zwei Obrigkeiten. Eine weltliche und eine kirchliche. Die weltliche im Ort hier war höchst beunruhigt über die Zukunft kräftigen Lebens im Pfarrhaus von Studenten. Wir waren damals natürlich nicht der Meinung, daß man hätte beunruhigt sein müssen, wenn unsere Leute einzögen, aber man kann es solchen Leuten, die da denken, wo Studenten sind, da passiert Unheil, nicht ganz verdenken, daß sie sowas denken.
So erschien der damalige Bürgermeister am Tage des Einzuges, von seiner Arbeit weg, noch mit dem Hammer in der Hand, um sich zu erkundigen, was denn da los sei. Ich hatte versäumt, das vorher anzumelden. Die Brüder hatten mich unterlaufen, waren einfach da, mit einem Lastzug voller ausrangierter Möbel aus „Innerer –” und „Äußerer Mission”. Das war die erste Behörde, zu der aber längst der Frieden hergestellt ist.
Und die zweite Behörde war natürlich ein hochwürdiges Theologisches Seminar mit seinem noch hochwürdigerem Kollegium, das hatte sofort eine Ordnung zu entwerfen für die Studenten, die hier Fuß gefaßt hatten.
Die im Pfarrhaus wohnenden Studenten des Theologischen Seminars unterstehen dort der Aufsicht des Rektors. Sie haben zu bedenken, daß sie unter den besonderen Bedingungen des dörflichen Zusammenlebens mit seiner Überschaubarkeit und seinen nachbarschaftlichen Beziehungen im Blickpunkt der Öffentlichkeit stehen. Mit anderen Worten: „Ihr könnt nicht anonym Krach machen dort, man wird immer wissen, wer Krach macht.”, und daß sie in ihrem ganzen Verhalten als Vertreter des Seminars angesehen werden.

Wir hören durchklingen das leise zitternde Herz einer Dozentenschaft, die von ihren Studenten immer nur das Beste denken möchte, die Texte entwirft, die, wenn die Studenten sie lesen, sich gar nicht anders verhalten können, als die Dozenten denken, daß sich Studenten verhalten müßten.
Das alles zeugt beinah von dem Verhalten einer Glucke, die Enten ausgebrütet hat, welche dann auf dem Teiche schwimmen, und sie spaziert am Ufer aufgeregt auf und ab und weiß nicht, wie sie sich verhalten soll.
Die Studenten hier sind ein stabiles Moment geworden im Leben der Ortsgemeinde. Und von hier oben aus sind Ströme der Beruhigung ausgegangen unter das öffentliche und das Gemeindeleben. Das hat sich also genau im Gegenteil erwiesen. Die Beunruhigung war nicht da.
Und nun kam auch Lebendigkeit aus der Gemeinde. Als die ersten Unkrauthaufen geräumt waren, wurde ungemeldet Fuhrwerk gestellt von der damaligen LPG und den Leuten, die merkten, es wurde angepackt. Das stimulierte, steckte an.
Eine gute, treue Seele aus der Gemeinde kam und brachte das, was sie zu liefern hatte: Eine Schürze voll halbwüchsiger, lebender Kaninchen. Für die mußten die Brüder als nächstes einen Stall bauen, die Arbeit am Hause des Herrn, am Pfarrhaus unterbrechen. So trieben sie ihre ersten Wurzeln als Siedler und Kleintierhalter. Das gehört ja dazu. Und dann kamen die ersten Stauden Salat, und dann wurden sie eingeladen in die Familien und dann waren sie plötzlich ganz hier drin.

Der Hausbau – die Rettung des Pfarrhauses

Solange die erste große Bauphase währte, waren sie unterhalten von einigen in der Gemeinde. Und es mußte unheimlich viel gemacht werden. Erinnert ihr euch? An dem Haus war alles schlecht, außer dem Dach. Man könnte auch sagen, an dem Haus war nur das Dach gut. Alles andere mußte ausgewechselt werden.

Was macht man mit dem Dach, wenn das, was drunter ist, ausgewechselt werden muß? Da haben wir auch auf Vertrauen gearbeitet.

Eines Tages komme ich, und die Brüder hatten in einer ungeheuren Aktion dezent den ganzen Nordgiebel abgerissen, die dicken Lehmmauern zersägt mit Schrotsägen und abgekantet, das lag alles an der Seite, und die Hälfte der nördlichen restlichen Längsseite. Das Haus war aufgerissen wie das Maul eines Walfisches. Man konnte schließlich fast darauf warten, daß es dieses zuklappen werde. Es ist nicht zugeklappt und es ist mit Gottes Hilfe auch niemand zu Schaden gekommen.
Natürlich bleibt ein solcher Zustand eines Hauses einer aufmerksamen Behörde nicht verborgen. So meldete sich die Bauaufsichtsbehörde des Rates des Kreises Eilenburg mit einer eintägigen Frist zu einer Inspektion an. Wir wußten ja, was es geschlagen hatte: Wenn das Haus weiter so dasteht, dann kriegen wir möglicherweise einen notwendigen Baustopp und da haben wir alle Freunde mobilisiert, von denen ich einige, die inzwischen schon im vorgerückten Alter sind, hier sitzen sehe, und haben das Haus in anderthalb Tagen hochgemauert. Und da ist dann etwas zu sagen von der Mannschaft derer, die da arbeiteten.

Wir hatten uns als Theologisches Seminar von dem Unternehmen folgendes versprochen:
1. Bei unserer chronischen Wohnungsnot, Buden für Studenten zu besorgen, war es dies ein willkommener Ableger. Und wir hofften, so ungefähr zehn bis fünfzehn Mann da auf Dauer installieren zu können.
2. Man hatte damals noch einen nicht vorlesungsfreien Samstag. Die Studenten fuhren längst nicht jedes Wochenende nach Hause, stöhnten aber in dem öden Leipzig und wollten gern wohin, wo’s grün war. Also hätte man hier ein schönes Wochenendgelände gehabt.
3. Die Dozenten fahren mit den Studenten gern auf Rüstzeiten, es kostet viel Geld und man muß weit weg. Warum in die Ferne schweifen? Sieh, das Gute liegt so nah.

Von diesen drei Gedanken ermannten sich die Kollegen des Kollegiums, „Ja” zu sagen und das Haus zu pachten von der provinzialsächsischen Kirche auf sechzig Jahre. Totale Nutzung, totale Unterhaltung. Und der Schwung der ersten Zeit war auch so, daß viele Studenten des Seminars mitmachten.

Die erste Eintragung in diesem Buche, das angelegt wurde, „Buch von den Arbeiten am Pfarrhaus der Kirche zu Liemehna bei seiner Wiederherstellung” lautet:
Vom 6. April 1974 – „Schachtarbeiten für die Klärgrube” – Sie sehen, man mußte ganz elementar ran.
Nachdem man Wasser wieder hatte, mußte man etwas schaffen, wo das Wasser hin konnte. Querschnitt vier Meter, bis 1,20 Meter tief Mutterboden ausgehoben, der ist sehr tief da an dieser Stelle; dabei wurde ein Findling von einem Meter Durchmesser aufgefunden, der trotz vereinter Kräfte aller Beteiligten nicht herausgehoben werden konnte. Das war die erste Arbeitseintragung, die bis in die vorigen Wochen sich nun fortsetzt in diesem Buche.
Aber daraus geht Folgendes vor: und das sei jetzt gesagt zu dem Verhältnis Studenten des Seminars und Studenten der erweckten Fraktion des Seminars im Pfarrhaus Liemehna und Freundeskreis dieser Studenten.
Die vier, die da zuerst einzogen, rekrutierten sich aus vier verschiedenen Zentren: aus Mecklenburg, Slate, dem Schniewindhaus, aus der Großhartmannsdorfer geistlichen Pflege und aus der Landeskirchlichen Gemeinschaft. Vier Leute mit geistlich bewegtem Hintergrund und einer Szene von Freunden. Diese waren bereit, das Leben hier so auf sich zu nehmen, wie es in der Härte verlangt wurde und wohnten schon hier.
Die übrigen Studenten des Seminars setzten sich in der ersten Zeit noch ein etwa im Verhältnis von sechs Mann Stammbesatzung bei solchen Arbeitseinsätzen und fünfundsechzig Studenten aus dem Seminar, aber, und das ist jetzt das Element, worauf’s ankommt: bereits einhundertfünfundzwanzig Helfer kamen aus weit her. Was für Helfer?
Ihr erinnert euch, daß damals die Jahre des spontanen charismatischen Aufbruchs waren. Alle Welt war bewegt. Manche wußten noch nicht, wovon, aber bewegt war jeder. Und diese Bewegten waren äußerst mobil, beweglich, kamen ohne jeglichen Ballast durch das Leben, das äußerste, was sie bei sich führten, war ein Neues Testament und eine Zahnbürste.
So waren sie überall und nirgends, könnte man sagen, aber das Anliegen Liemehna wurde zum Gebetsanliegen gemacht bei den großen Jugendevangelisationen in Großhartmannsdorf, so daß in wenigen Wochen Tausende wußten, daß hier was los war. Und das ging durch den „Buschfunk der Erweckung” durch die ganze Republik und so hatten wir an jedem Wochenende einen Durchlauf von etwa zwanzig bis dreißig Bewegten.
Manche wußten noch gar nicht wohin sie unterwegs waren. Sie sagten: „Ich bin der Wilfried.” Das ist nicht der Wilfried, der mit hier sitzt. Es waren andere Wilfriede. Ein Wilfried aus Elster-Twenklitz und ein Wilfried aus Böhlitz-Ehrenberg, denn die Brüder, die Stammbrüder, kamen nicht mehr nach, in diesem Punkt der Arbeit, aufzuschreiben, wer alles hier gearbeitet hatte, weil die Namen nur mit dem Vornamen bekannt wurden, „Ich bin der Wilfried, ich hab ein Wochenende frei –ich komm aus Crimmitschau – ich hab gehört, man kann mich hier gebrauchen, ich bin da.” Und so erscheint nun sein Name – als einer der Wilfriede – „Wilfried aus Crimmitschau” – gekommen, gearbeitet, gebetet, gelebt und weitergezogen – scharenweise.
Wenn man das so miterlebt hat, konnte man als einer, der nicht unbedingt selbst diesen Anfang im geistlichen Anfang gehabt hat, zuweilen wie ich gestern abend schon gesagt habe, die Luft anhalten – auch anhalten aus der Frage: Wo läuft das hin? Wo lief es hin? Es lief hin – immer dichter auf Jesus zu und immer dichter auf das Leben in der Gemeinde zu. Denn es stellte sich heraus, daß hier der alte christliche Spruch: „Bete und arbeite.” zur Anwendung kam. Es pendelte sich ein. Wer hierher kam, baute mit am Hause, betete mit – die drei Gebetszeiten am Tag und der Gottesdienst am Sonntag – erholte sich auch einem halben Tag – einen Sonntag Nachmittag. Eisern wurde drauf geachtet – nein, wurde nicht drauf geachtet, es ergab sich von selbst, daß sonntags nicht gearbeitet wurde, der große Arbeitstag war Samstag. Sonntags ist so gut wie nie gearbeitet worden, hier in diesem Gelände. Das verstanden auch die Handwerker, die sich uns öffneten.
Es ist doch ein Kunststück heute – Handwerker zu gewinnen, etwas zu machen.
Aber, nachdem sie einmal – der Tischler und der Klempner, der Zimmermann und der Maurer – gesehen hatten, wie hier gelebt wurde, ließen sie sich anstecken und waren sogar bereit, auf den Arbeitssonntag zu verzichten – sie respektierten es, daß wir der Meinung waren, der Tag gehöre dem HERRN. Und doch ist dies alles nach und nach entstanden.
Wir haben 1978 einmal, nicht aus Gründen der Selbstdarstellung, sondern auf Bitten des Seminars, das wissen wollte, als eine Behörde, was denn hier alles reingesteckt worden sei, eine Bilanz gezogen: Da sind herausgesprungen: zwölftausend Arbeitsstunden, die geleistet worden sind – und zwar unbezahlte Arbeitsstunden. Und die Arbeiten, die von Handwerkern ausgeführt wurden, und die Materialkosten, die geleistet werden mußten, um das Haus wieder instandzusetzen, beliefen sich damals, im Jahre 1978, auf 50 000 Mark plus 12 000 Mark unbezahlt geleistete Arbeitsstunden.
Das war vor fünf Jahren. Inzwischen sind wir fünf Jahre weiter. Es ist weniger an Masse dazugekommen. Aber nicht weniger intensiv ist gearbeitet worden. Aber dies nur nebenbei.

Ich wollte jetzt auf etwas zu sprechen kommen, was nun bei dem Leben dieser Mannschaft hier das „Ins-Auge-Fallendste” war, auch für einen, der als ein vom Theologischen Seminar bestellter Ressortdozent (furchtbares Wort, gibt’s sonst nirgends auf der Welt, nur am Theologischen Seminar), der also den Auftrag hat vom Kollegium, das Auge zu haben auf dieses Unternehmen. Er war mir zugewachsen durch die konzertierte Aktion des Heiligen Geistes, der auch Pfarrer Seidenberg sich nicht entziehen konnte, und Superintendent Danzmann auch nicht, und das Kollegium des Theologischen Seminars schließlich auch nicht.
Obwohl man dort meinte: „Oh, so weit draußen. Werden die jungen Brüder studieren können und sich nicht auf dem Fahrrad tot machen, sieben Kilometer bis zur Straßenbahn und dann noch nach Leipzig rein? Die fallen doch schlaftrunken in die Hörsaalbänke.” – Auf jeden Fall, durch die Liemehnaer kamen immer einige Lungen voll frische Landluft in die rauchgeschwängerte Leipziger Zentrumsluft hinein.
Oder es wurde gesagt: „Die können nicht genug studieren, das geht auf Kosten deren Leistung.” – Schließlich hat einer von den Absolventen in Liemehna eines der bisher seminarbesten Examina gemacht. – Natürlich sind die Gaben verschieden verteilt, mancher kommt gerade noch durch, wäre er aber auch gekommen, wenn er nicht in Liemehna gewohnt hätte. Andere kommen glänzend ohne Mühe durchs Examen. Ein Ziel, das jeder gerne hätte. Das also hat sich sehr bald eingependelt.

Geistliches Leben in der jungen Bruderschaft Liemehna

Wie lebte die Mannschaft hier draußen? Durch die Herkunft als den Erweckungszentren ergab sich ja eine sehr starke Sehnsucht nach unmittelbarem Umgang mit Jesus.
Durch die Kraft des Heiligen Geistes. Die Bibel wurde fleißig studiert und Verbindung gehalten mit den Brüdern.
Derjenige, der mitzog, aber zugleich durch Lebensalter und Berufung auch die Distanz wahren mußte, konnte sehen, daß merkwürdig wenig Wert gelegt wurde auf die Formen. Alles wurde der Spontanität überlassen. Und das Treiben, das hier vor sich ging, war gottesdienstlich gesehen, zuweilen bunt. Bunter als die wenigen Treuen aus der Gemeinde, die dieses noch nicht kannten, zunächst verkraften konnten. Die waren immer verwirrt.

Anekdoten und Geschichtchen

Und als die Brüder hier zum ersten mal einzogen, da haben sie zum Beispiel gemeint, sie müßten diese Ehrentafel, die hier an der Seite hängt, abhängen. Das sei doch nun wirklich gewesen, und dem sollte man nicht weiter nachhängen. Aber ich konnte ihnen sagen: Es leben noch Leute, die eine persönliche Beziehung hatten zu dem, zu dessen Gedächtnis das hier aufgehängt worden ist. Wartet doch mal eine Weile. Und sie haben‘s wieder hingehängt. In einem anderen Falle waren sie weniger erbittlich. Es hing hier früher ein sehr altes Bild von Martin Luther. Das ist einer Generalreinigung der Kirche einmal nicht zum Opfer gefallen; es gibt es noch, aber das Bild ist weggenommen und nicht wieder aufgehängt worden.
Das sind Züge gewesen, wo das Zusammentreffen dieser jungen, erweckten Brüder mit einer ruhigen Gemeinde auch Spannung erzeugt hatte.
Die Liebe zum Heiligen Abendmahl, ja, am liebsten jeden Sonntag, aber dann auch in einer äußerst nachlässigen äußeren Form, so daß die Gemeinde, die doch Jahrhunderte ihr äußeres Erscheinungsbild nicht gewandelt hatte, irritiert war.

Auch ein anderes Phänomen, liebe Brüder, das deutlich wurde: Die Liebe zu Jesus und die Sehnsucht nach direktem Umgang, geistlichem Umgang, hat eine stets begleitende GeGeistliches Leben in der jungen Bruderschaft Liemehnafahr zur Seite gehabt, nämlich zu vergessen, daß es Gott gefallen hat, sich uns zu offenbaren durch Mittel, durch mittelbare Dinge, durch die Heilige Schrift.
Schön und gut, die ward gelesen von euch wie von keinem. Ich habe es erlebt, daß einer von euch im theologischen Examen geprüft wurde – in Griechisch. Das war zwecklos. Der wußte sowieso, was in der Bibel stand, deutsch auswendig. Der brauchte nicht zu übersetzen. Wo man hier auch ansetzte, ein Blick darauf und der Text schnurrte ab im fehlerfreien Lutherdeutsch. Nun ja, die Bibel war bekannt.
Aber nun hat es doch Gott gefallen, daß er sich uns auch mitteilt, daß er uns zu erkennen gibt unsere ständige Unzulänglichkeit vor ihm und in der Beichte vor dem Bruder, oder der Schwester, und in der heiligen Absolution, die immer wiederkehrend die Verbindung zu ihm befestigt. Das verlangt, daß nicht ich alleine verkehre nur über die Heilige Schrift geistlich mit Gott, sondern daß ich mit einem Bruder oder einer Schwester zusammen vor Gott hintrete.
Oder die innigste Gemeinschaft mit dem Herrn in seinem heiligen Mahle, was wir heute gefeiert haben, ist doch unsere Einbindung in das Gesamt der Gemeinde, in den Kreis der Brüder. Und wir werden Brüder, indem wir mit Christus gleich werden an seinem verklärten Leibe. Dieses Moment war nötig, daß man’s in Erinnerung brachte, denn die große Sehnsucht, Jesus unmittelbar und Geist unmittelbar zu erleben, die war zu spüren, das war faszinierend, das war charmant, das war herzbezwingend. Zugleich auch eben doch auch die Gefahr einer möglichen Steilführung oder Engführung, und wir haben Perioden gehabt, wo wir schmerzhaft Erkenntnisse sammeln mußten.
Ihr Brüder, man mußte euch das überlassen, den Weg selber zu erkämpfen, um das geistlich zu erleben und das geistlich zu erkennen. Das wurde heute Abend in der Predigt angesprochen.
Hier ist aber auch ein Bruder, der hatte es so eilig, mit Jesus und dem Heiligen Geist direkt in Verbindung zu kommen, daß er seinen Leib einem unmäßigen Fasten unterzog. Auch außerhalb jeder Fastenzeit. Er setzte dazu ein besonderes Käppchen auf und lebte in dieser besonderen Weise. Schön und gut. Aber ein wenig auf Kosten der Verbindung zu der Gemeinde.
Es geschah, daß er das Pfarrhaus hütete und den Laden dicht gemacht hatte, um ganz alleine meditieren zu können. Es kam ein Glied der Gemeinde in einer dringenden geistlichen Situation, und wollte eine Nachricht hinterbringen, weil das Pfarrhaus inzwischen Nachrichtenstelle für das ganze Gemeindeleben geworden war. Und was macht mein Meditator? Er fühlte sich bedrängt. Meinethalben, der heilige Paulus hat sich auch über die Maßen bedrängt gefühlt, aber stattgegeben, indes mein Meditator nicht. Er fühlte sich bedrängt, ließ die Tür verriegelt und um allen weiteren Bedrängungen zu entgehen, entsprang er dem Hause durch ein Fenster. Hatte aber nicht damit gerechnet, daß das ihn bedrängende Gemeindeglied ums Haus gelaufen war und seinen Schatten in den damals reichlich vorhandenen Blumen verschwinden sah.
– Nun sage einer einmal, was ist das? Was ist das gewesen? – Es war ein Mißverständnis, das ist aufgeklärt worden, in gegenseitiger Liebe und Güte ertragen worden, und hat sich ausgewachsen. Aber Sie können sich vorstellen, daß ein Ressortdozent, wenn ihm solches widerfährt, wenn er so etwas berichtet bekommt, denkt: „O, die jungen Brüder!”
Wir haben inzwischen gemerkt, daß der innere Zusammenhalt bei dem Gebrauch der äußeren Gnadenmittel liegt, die Gott gestiftet hat, daß wir aus ihnen uns nähren.
Das gemeinsame Sitzen, das gebeugte Sitzen über der Heiligen Schrift und die wöchentliche Zusammenkunft in Gebetsgemeinschaft und Feier des Heiligen Abendmahles ist die Stelle in der Woche, wo die Kommunität der Brüder, die aktiv hier sind, mit mir zusammen die innerste Sammlung erfährt, und darüber kann man nur berichten in heller Freude, daß das sich hat so bilden können.
Ich will auch noch etwas sagen, um den Anschluß der Geschichten zu gewinnen an die Geschichte.

Das Pfarrhaus schon wieder ein Räubernest?

Sie haben doch gehört, daß die Höhe hier oben ein Räubernest geworden war. Die Schweden hausten von hier aus und stürmten die Bierwagen der Deutschen, der Kaiserlichen. Wo Leben ist, geistliches Leben, da sammeln sich auch Geister, die da meinen, im Trüben schöpfen zu können.
Unsere jungen Leute von damals, in der Begeisterung der ersten Stunde, übernahmen sich natürlich prompt in der Missionierung der Welt. Es war damals in Leipzig sehr viel los. Einige von den Brüdern hatten eine gute Beziehung zu verwahrlosten Gesellen in Lindenau und meinten, dieselben, Kraft des Evangeliums, nicht nur in den Himmel, sondern auch hier auf Erden resozialisieren zu können. Sie übernahmen sich dabei, aber sie waren in einer solch großen Liebe bei der Sache, daß das Seminar und auch der Ressortdozent keineswegs hätten sagen können: „Also die Studenten haben die staatlichen Vorschriften oder das polizeiliche Meldewesen und die Verordnungen der Veranstaltung genau zu beachten.” Das war gar nicht möglich. „Sie dürfen Gäste zur Übernachtung nur mit Zustimmung des Rektors aufnehmen!”, der delegierte weise seine Vollmacht auf mich und ich sagte: „Ich muß mindestens wissen, wer hier geschlafen hat.” Das gilt bis zum heutigen Tage.
Aber damals waren wilde Gesellen unterwegs. Einige schienen sich resozialisieren zu wollen, wurden von den Brüdern hier aufgenommen zu Rüstzeiten. Aber es geschah Folgendes, und das erzähle ich unter dem Stichwort Räubernest:
Es waren wieder einem von den Brüdern vier Gesellen, wie er meinte, ins Garn der Liebe gegangen, und die meldete er per Postkarte an, die werden hier kommen und übernachten. Es war eine leise Irregularität dabei, denn wir hatten ausgemacht: Wenn so etwas passiert, dann erst mir sagen und acht Tage Zwischenraum, damit man sich hier gut einrichten kann, und das war alles so plitzplatz – übermorgen kommen sie, und ich komme nicht mit. Ich habe etwas anderes zu tun.
Zwei kamen nur, die kamen nur bis zum Gasthof, da blieben sie hängen, fanden aber im Gasthof zwei frühere Gesellen aus dem Jugendwerkhof, darunter den langen Jürgen. Sie kamen hier an, nachdem sie sich in der Disko im Gasthof hatten ziemlich vollaufen lassen. Die Brüder hier taten das einzig Richtige, was man tun konnte, sie verfrachteten sie auf Pritschen und meinten, man solle sie ihren Rausch ausschlafen lassen. Aber sie hatten nicht damit gerechnet, was der lange Jürgen so vertragen könnte. Nachts liegt einer der Brüder im Bett und hört merkwürdige Geräusche, und wie er aufsteht und hinausschaut, sieht er den langen Jürgen im Haus umhergehen und alles durchwühlen. Und er steigt die Treppe hoch. Der lange Jürgen, kommt vor ein Doppelstockbett. In der unteren Etage schläft einer der Brüder, in der oberen einer der wilden Gesellen, einer der weniger wilden der vier. Und der lange Jürgen will den wilden Gesellen von oben aus dem Bette drängeln und ihn zum Abmarsch fertig machen, denn sie müssen fort. Und da steckt der junge Bruder, der unten schläft im Doppelstockbett den Kopf heraus und sagt: „Was ist denn hier los?” Und siehe da, schon hat der lange Jürgen ‘nen Dolch in der Hand und fährt mit ihm quer übers Bett und trifft nicht, sondern der Dolch fährt hinten in die Wand.
Der Bruder hat das einzig richtige machen können, er hat sich flach gemacht vor Schreck, hat die Decke über den Kopf gezogen und sich tot gestellt. Jedenfalls war er bewegungslos. Das bewog den langen Jürgen, tappend wieder denn auch abzuziehen.
Aber sein Gewaltdurst war noch nicht gestillt. Er suchte noch ein Objekt und da kam er in der großen Stube an. Und ihn ödete das ganze Leben im Hause an. Und die fast widerstandslose Liebensbereitschaft der Brüder, die bereit waren, ihm alles nachzusehen und ihn einen neuen Anfang machen zu lassen, das reizte ihn auf das Äußerste.
Und er sah in der Stube, wo er sich Licht verschafft hatte, auf dem Bilde die Gestalt dessen, von dem diese Haltung der Liebe und der Bereitschaft ausgeht. Und in wilder Wut stach er zweimal in das Jesusbild, das in der großen Stube der Brüder hängt, mitten ins Herz. Es war ein auf Christus gezielter Haß, gegen die Haltung, die aus Christus heraus man gewinnt, die ihn da handeln ließ.
Viele Besucher haben gesagt: Was ist das für ein Schinken, dieses Bild, wie könnt ihr so ein Schmarrn da aufhängen, kunstgeschichtlich gesehen, taugt das doch nicht viel. Haha, wenn diese wüßten, was wir für eine Geschichte gehabt haben mit diesem Bilde, daß dort das durchbohrte Herz Jesu für uns Sinn enthältlich geworden ist, der würde gar nicht erst so etwas sagen, obwohl er kunsthistorisch sicher Recht hat. und so hängt in der großen Stube heute noch dieser segnende Jesus mit dem durchbohrten Herzen.

Der lange Jürgen behängte sein Fahrzeug mit mehreren Taschen, darin Transistorgeräte, Tonbandapparaturen, Schallplatten, Cassetten und was, ich weiß nicht alles. Schließlich stieg er bombastisch im Hofe auf sein Fahrzeug auf und rauschte mit noch einem Gesellen ab, zwei blieben da. Die Brüder taten das einzig richtige, was sie tun konnten, sie hinderten ihn nicht an der Abfahrt, um ihn nicht weiter zu reizen.
Sie meldeten dann der waffentragenden Behörde, was sich ereignet habe, und man fand anderthalb Tage später in einer Straßenbauarbeiterhütte in der Eilenburger Gegend das Einwickelpapier der Dinge, die der lange Jürgen aus dem Kühlschrank mitgenommen hatte.
Er ist immer wohl asortiert gewesen, unser Kühlschrank, so am Ende der Woche, weil doch über Sonnabend, Sonntag viele zu beköstigen waren. Das hatte er alles ausgeräumt und in dieser Baubude aufgegessen.
Es kam schließlich alles wieder, was gestohlen war, denn man faßte ihn. Nur eins blieb verschwunden: ein Student vermißte eine Dogmatiknachschrift, die er angefertigt hatte. Die hatte der lange Jürgen auch mitgenommen. Die aber fand sich in seinem Gepäck nicht wieder, weder in der Straßenbauarbeiterbude, noch sonst, wo man seines Diebesgutes sichtbar wieder teilhaft wurde.

Kleine und große Wunder der Bruderschaft

Die Erlebnisse vom Räubernest oder die Engführungen der Bruderschaft müßten natürlich nun ergänzt werden von den atemberaubenden kleinen Erfahrungen, zum Beispiel, wenn die Handwerker bereitstehen, – das Material ist ausgegangen – und man weiß wirklich nicht, woher, da kommt jemand, von dem man’s nicht erwartet hat, und sagt, ich bringe euch hier etwas. Und dann ist die Fuhre da, so und so viel Sack Zement, das ist genau die Summe, die wir brauchten, um an dem Tag über die Runden zu kommen.
Da staunt man, solche Dinge ließen sich viel, viel erzählen über die Jahre, die hier vergangen sind.
Das Theologische Seminar hält sonnabends keine Vorlesungen mehr. Die Studenten arbeiten am Sonnabend zu Hause. Sie verlassen dazu Leipzig am Freitag nachmittag und laben sich entweder an den Fleischtöpfen der Bräute oder Mütter, je nachdem, in welchem Stande, und haben es nicht mehr nötig, im öden Leipzig zu bleiben.
Aber die Hoffnung des Seminars, hier eine Erholungswochenendbleibe zu haben, hat sich nicht erfüllt. Die Studenten machen nach wie vor Rüstzeiten. Aber die Zeiten sind immer besser. Das Leben wird immer schneller, man möchte immer weiter weg. Liemehna, vor den Toren Leipzigs, ist noch nicht weit genug weg. Vielleicht zu nah. Wiederum auch nicht bequem genug erreichbar. Diese beiden Posten, die das Seminar einst an Hoffnung investierte, sind nicht mehr da. Bleibt, daß hier Studenten wohnen, die am Seminar studieren.
Ja, aber wer nicht die heitere Spontanität vergißt, schon zu Studentenzeiten ein Pfarrer auf Vorschuß zu sein, wie die Studenten hier, Gräber zu graben, Glocken zu Läuten, Kirchenbänke zu wischen und den HERRN zu ehren, durch jeden zweiten Sonntag verantwortete Gottesdienste und die Christenlehre der Gemeinde zu unterstützen, wer meint, das sei nicht sein Weg im Studium, der wird nicht hier herkommen.
Und auch wer sieben Kilometer Fahrrad nicht fahren will jeden Tag, wird nicht herkommen. Und so hat sich’s ergeben, daß immer nur Nachwuchs kam aus der Frömmigkeitsrichtung, aus der die ersten stammten. Gebe Gott, daß er uns Nachwuchs schickt.
Das wissen wir nicht: So wie wir angetreten sind, so wie ihr angetreten seid, so werdet ihr weiterziehen. Und alles Vertrauen darauf setzen, daß der Segen, der unter dem Dache dieses Hauses auf euch geflossen ist, auch anderen noch teilhaft werden möge.
Da ist der Freundeskreis wichtig, der sich gesammelt hat, um die Bruderschaft herum. Der jetzt in Überlegungen einbezogen ist, die dahin zielen, man könnte vielleicht einen Freundeskreis schaffen für dieses Unternehmen, daß, wenn es sich einmal ergeben sollte, daß das Theologische Seminar kein tieferes Interesse mehr haben könnte an diesem Haus, weil zu wenig Studenten des Seminars Gebrauch machen, es zu bewohnen, daß dann trotzdem Nachwuchs kommt und Verwendung bleibt für dieses Haus. Wir wissen aber überhaupt nicht, wohin der Weg geht. Wir wissen nur, daß das, was wir bisher hier drin erlebt haben, herrlich war.
Und wir wissen nur, daß wir Gott zu bitten haben, er möchte uns weiter solche Freunde schenken. Und das ist der Sinn dieser kleine Stunde gewesen, Geschichte und Geschichten der Sinn dieser kleinen Stunde, daß die Lust, hier zu leben und hier zu erleben, anstecken möge und weitergetragen werden möge. Vielen Dank!